ETUDE
Marcus Braun
(Auszug aus dem Roman »Nadja oder Die Hand am Geschlecht«)
|
All diese Martern bloß des Lesers wegen / Jean Paul
Gerne hätte ich sie durch die Brennesseln geführt, doch sie trug
Strümpfe, es mag eine Frage der Zähmung des Feuers sein, sie werden
sich viel ersparen, wenn sie verstehen, was Freud sich zusammengesponnen
hat, der Rhythmus ist der Rhythmus der Füße, seit fünf Minuten
spazierten wir zusammen am Bach entlang, nachdem ich sie nach
einer Zigarette angeschnorrt hatte, vielleicht ist also das Leben
unendlich, aber das sind unzulässige Übertragungen, sie hätte
meine Mutter sein können, dieses kleine zierliche Wesen, der Gedanke
kam mir wahrscheinlich nur in den Kopf, weil es wirklich nur rein
statistisch vorstellbar war, wir blieben auf der Brücke stehen,
und ich spuckte ins Wasser, legte wie unabsichtlich einen Moment
meine Hand auf ihren Hintern, sie ignorierte das, nichts Menschliches
sei mir fremd, hörte ich jemanden sagen und bildete mir ein, es
sei Goethe gewesen, aber wahrscheinlich war es nur ein imaginärer
Dorftrottel, ein Mann sah hinten aus meinem Kopf heraus, sah mich
fragend an, über seinen Schultern endlos das Meer, nicht endlos,
sondern bis zum Horizont in Höhe seiner Augen, mir schwindelte,
ich bewegte mich nicht, um das Gesicht nicht zu verschrecken,
wir tauschten unsere Namen, gingen weiter, ihr Bläschen drückte,
ich fragte, ob ich sie abhalten sollte, sie lehnte lächelnd ab,
kokett, ein andermal vielleicht, ich erzählte ihr von einem Schwangerschaftstest
am Wehr und von unserer unverfärbten Begeisterung, Blut und Erlösung,
sie ließ mich mit jeder Geste merken, wie jung ich war, sein sollte,
ich formulierte Frau als Fixpunkt, formulierte Fels in der Brandung,
formulierte zentrales Erlebnis, dafür sei ich auf der Welt, alles
hat einen Grund, nichts einen Sinn, Madame, Filzläuse sind wir,
Filzläuse eines bösen Demiurgen, sie erzählte von ihren Vorlieben
und meine Unbefangenheit war leider nur verbal, so liegt darin,
daß die Geliebten in der Hölle ungetrennt bleiben, ein Hauch von
der Gnade Gottes, um aus der Hölle erlöst zu sein, müßten sich
beide aber trennen, da sie nicht genug Zeit hatten zu bereuen,
von Teufeln vorwärts gepeitscht in Kot watend, ich wollte ganz
Frankreich stehlen, um es an ganz Frankreich zu verschenken, der
Rhythmus ist der Rhythmus der Hüfte, ausgelöst durch das schrecklich
frustrierte und unterernährte Schreien der Vögel, wie in N.'s
Ada, denn die Wahrheit bedarf der Wiederholung, bekam ich plötzlich
Angst, flüchtete mich unter dem Vorwand telefonieren zu müssen,
in eine Telefonzelle, du triffst sie auf dem Gang, sie tut Gutes
oder belehrt, füttert die Vögel, du greifst ihren Arm, sie sagt,
sie sei älter, du hältst ihren Arm, er ist soundsoviele Jahre
älter als der deine, sie spricht von Unmöglichkeit, von ihrer
Gefährdung durch dich, selbst von Lebensgefahr, du legst deine
Hand zwischen ihre Beine, sie preßt sie zusammen, verweigert sich,
in ihrer Stellung sei es unvorstellbar, sie füttert weiter die
Vögel, Madame wartete einige Meter vor der Zelle, ich stellte
mir vor, sie hielte nach einem Freier Ausschau, sondierte die
Männer, die an ihr vorbeigingen, ich legte auf, ging zu ihr, der
abstrakte Gedanke, sie in der Art eines Freiers anzusprechen,
ging mir durch den Kopf, schlimm genug für das Holz, das als Geige
erwacht, ich nahm mich zusammen, sagte, es ist etwas Schreckliches
passiert, griff ihren Arm, um den Prozeß der Verselbständigung
zu beschleunigen, offene Möglichkeiten der Selbstabschaffung,
ein guter Freund sei gestorben, sie schwieg, und das war mir angenehm,
als wäre wahr, was ich sagte, wir saßen immer dort unten am Bach
und sahen den Wolkenbildungen zu, ich dachte mir, jetzt müßte
sie mich auslachen, auf der anderen Seite des Wehres saß öfters
ein Mädchen, zu dem wir hinüberschauten, der Gipfel der Lächerlichkeit,
wie er gestorben sei, ich brüllte sie an, das sei völlig egal,
die Nerven, so bieten sich die Toten den Lebenden als edelste
Speise dar, ich hatte schon so etwas geahnt, mit trauriger Stimme,
sie legte tröstend den Arm um mich; zusammen in der Kneipe, heller
Nachmittag, abschätzende Blicke der Bedienung, Brauereiausstattung,
ich möchte sagen, mein Freund ist heute gestorben, darf ich sie
zu etwas einladen, bestelle aber schlicht zwei Bier, draußen beginnt
es wie auf Verabredung zu regnen, er lag schon länger im Sterben,
ich entzünde eine Sterbekerze auf dem Tisch, sie nippt nur an
ihrem Bier, ich befehle ihr, richtig zu trinken, ich töte die
Fische, ich töte auch die Fische, die sie fängt, ich töte und
zerschneide, weide im Bach aus, mit blutigen Fingern greif ich
der jungen Mutter unter den Rock, unterdessen begannen einige
reine und frische Gesänge in Konzerten und privaten Gesellschaften
zu zirkulieren, ich lasse abzählen und erspare mir nichts, es
gibt eine Erzählung die beginnt mit stillem Elend in einem Zimmer,
so selbstverständlich, als wenn das nicht immer der Fall wäre,
was ich von Kokain halte und von Sex und Kokain, ich kenne weder
das eine noch das andere, und die Kombination von beidem ist mir
gänzlich unbekannt, sie lacht, und ich sehe sie streng an, sie
streicht mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht, und ich drücke
einen Daumen unter dem Tisch in ihre Kniekehle, will die Schmerzgrenze
erreichen, aber sie verzieht keine Miene, ich lasse nach, ziehe
meine Hand den Oberschenkel entlang zurück, sie hat Strapse an,
sie spürt, daß ich das spüre, kann mich dem Reiz nicht entziehen,
bestelle noch Bier und Whisky, die Tiger stürzen sich auf die
Frau, wir warten auf die asymmetrische Schlange eines anderen
Verlangens, sie trinkt ohne Widerrede, nein, diesen Jugendtraum
werde ich mir nicht zerstören, durch diesen Schacht mußt du kommen,
die Situation macht mir Angst, wie sollte sie nicht, die Überfülle
nach all der Erwartung, das Experiment abbrechen, ich stelle die
falschen Fragen, sie schaut tatsächlich verlegen auf die Tischplatte,
denke schon in Verkleinerungsform von ihr, keine Verharmlosungen,
mir fällt ein Bierdeckel unter den Tisch, als die Bedienung zwei
neue Gläser hinstellt, diese fürchterlichen Füllsel das ganze
Leben lang, Angaben über den Schlaf, die Intensität des Lichts,
die Jahreszeit, Anzahl der Töchter, Name des Schiffes, philosophische
Betrachtungen zur neuen Musik, Wassertemperatur, überholte Pläne,
Akkordfolgen, Kannibalismus und Strawinsky, wobei letzteres am
wenigsten langweilt, ich habe dagegen nichts einzuwenden, bestärke
sie aber nicht in ihrem Ressentiment, um ihm nicht zum Opfer zu
fallen, ich bücke mich unter den Tisch, fremde Welt, die Frauen
fallen über den Tiger her, das sind alles Ordnungen und Ordnungsvorstellungen,
die der Welt nicht gerecht werden, ich sehe, wie sie langsam die
Beine öffnet und sich mit den Händen an den Schenkeln entlangstreicht,
diese Stammhirnkaschierung erträgt doch kein Schwein, ich tauche
auf, habe den Bierdeckel vergessen, sinngemäß, wenn ich alt bin,
werde ich mich der Malerei widmen, die Bedienung hat nichts zu
tun und uns scharf im Auge, wohl auch wegen meines ungerechtfertigt
langen verträumten Abtauchens, Madame legt eine Hand zwischen
meine Beine und macht einen Schmollmund, es mag eine Frage der
Zähmung des Feuers sein, im Trocknen Feuchten Kalten hätt ich
mir nicht die Flamme vorbehalten, sie öffnet den Reißverschluß,
die Werke reagieren auf das direkte Leiden am dialektischen Zwang,
alles im Leben ist selbstverschuldet, davon bin ich in diesem
Augenblick einmal mehr überzeugt, ich zwinge eine Hand durch ihren
Gummibund, taste mich vor und hinunter, zu Beginn und am Anfang
ist nichts, das unüberschaubare Chaos herrscht und ängstigt, bevor
die ordnenden Kräfte sich Bahn brechen, wir vergrößern die Summe,
zählen hinzu, meterhohe Flammen schlagen aus dem Gebälk, das kann
kein Mensch spielen, nur der, der's spielt, die Forellen beißen,
fraglos tun wir, was wir nicht lassen können, und lassen, was
wir hier nicht tun können, die Thekenfrau räumt ab, läßt mich
unter ihre Arme, schwingt, daß mir Hören und Sehen vergeht, nimmt
meinen Wunsch entgegen, man braucht nicht viel Phantasie im Leben,
sage ich, als sie gegangen ist, wir laufen zum Auto, ich ergebe
mich meinem Schicksal, wir klagen die Menschenrechte ein, berauben
uns unserer Kleider, nach kurzer Fahndung ein Finger in ihrem
Schritt, das Wegrecht über ihr Land, ich werfe mich in sie hinein,
der Rhythmus ist der Rhythmus der Hüfte, ihre kleinen Füße sind
gegen das Autodach gestemmt, und ich schlage sie rechts und links
in die Rippen, der Rhythmus ist der Rhythmus der Schläge |