Heute würde ich nicht mehr verweigern

Pazifisten aller Länder, schämt Euch!

Kürzlich kam ich mal wieder an dem Gebäude in der Bielefelder Altstadt vorbei, in dem ich in den frühen achtziger Jahren ausgemustert wurde. Ich hatte zwei Atteste vorgelegt, aber bei den Kniebeugen auch die Luft angehalten und der erstaunten Ärztin dann meinen rasanten Puls damit erklärt, dass ich ja kaum mal zum Sport gehen könne, wegen dem Asthma. Mein Antrag auf Wehrdienstverweigerung bedurfte keiner Entscheidung mehr, aber das Asthma habe ich immer noch. Ich fahre damit Radrennen. Die Ausmusterung war in den extrem geburtenstarken Jahrgängen allerdings nichts besonderes, die Bundeswehr wurde auch schon verkleinert. Man brauchte mich nicht.  

Was  mir überraschenderweise blieb, war das Gefühl einer maskulinen Kränkung. Mein bester Freund ging zur Gewissensprüfung und weigerte sich, für seine Unfähigkeit, mit der Waffe auf einen Menschen loszugehen und notfalls zu töten, eine Begründung zu geben. Das verstünde man entweder so oder gar nicht. Heldenhaft fiel er drei Mal durch, man versetzte ihn allerdings nach der Grundausbildung freundlicherweise in die Schreibstube. Andere jedoch kehrten aus dem Wehrdienst desillusioniert zurück, erzählten von der Sinnlosigkeit, nachts im Schlamm zu robben, und von der rücksichtslosen Hierarchie. Auf dem Weg zum Erwachsenenleben wirkten sie schon gebrochen und peilten meist ein möglichst unpolitisches Privat- und Berufsleben an. 

Das stärkte durchaus das Gefühl, mit der Ablehnung jeglicher Bewaffnung auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Man stellte sich so schön vor, es sei Krieg, und niemand ginge hin. Die Jugend wollte ja auch alles besser und gründlicher machen als ihre Eltern und Großeltern. In welch einer Welt lebten wir denn ohne diesen Anspruch? Man wollte doch eine weitere Zivilisierung und Harmonisierung statt einen Menschen, der mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren kann. Albert Einstein hatte ganz richtig gesagt, dass er diesen Menschen verachte, denn er habe sein großes Gehirn nur aus Irrtum bekommen, das Rückenmark genüge für ihn schon völlig. Und wenn ich selbst die Ausmusterung noch als Kränkung erlebte, dann hatte ich gefälligst an mir zu arbeiten. Freilich, es gab stets Kriege, kleinere und größere. Man sortierte sie als letzte Unfälle weg, als Beweise dafür, dass es so nicht weitergehen konnte. Der gewaltlose Mauerfall und die Jahre danach waren dann die große Bestätigung der menschlichen Vernunft, die bis zum Ende der Apartheid in Südafrika reichte. Darüber konnte man die Pflichten eines Pazifisten leicht vergessen. 

Mit dem World Trade Center stürzte dieses Traumgebäude zusammen. Am 11. September 2001 musste man durch den unerwarteten Clash von Primitivität und Hochtechnologie begreifen, dass der Mensch erratisch bleibt und doch immer wieder mal Zerstörung zum Schöpfungsakt erklärt. Als der erste Turm fiel, hatte ich längst verstanden, dass dieser Angriff auch mir galt. Wenn ich nach endlosen Fernsehstunden durch das Berliner Treppenhaus hinunter auf die Straße ging, meinen Sohn an der Hand und einen Fußball unterm Arm, tat ich das als Verletzter. Imre Kertész hatte geschrieben, wie er verstand, jederzeit erschießbar zu sein. Man konnte es lesen. Es in seiner Zeitlosigkeit zu begreifen war aber ein weiterer Schritt. In den Jahren danach vereinfachten sich die Methoden der Terroristen, ein gestohlener LKW oder das eigene Auto reichte ihnen, um Wehrlose zu töten und Gesellschaften in Angst zu versetzen. Die Grünen hatten die Forderung längst aufgegeben, alle Geheimdienste abzuschaffen. Man enttarnte die Sauerlandgruppe und verhinderte die nächste Blutorgie, weil man Telefone abgehört hatte. Der Traum vom besseren Menschen geriet in Verdacht, ein Traum zu sein. Im Moment war es okay, die besseren Methoden und Geräte zu haben. Man hätte die jetzt einsetzende Diskussion über eine erneute und zeitgemäße Wehrpflicht schon damals beginnen können.

Dass der Pazifismus nie zu Ende gedacht wurde, merkte man aber nicht nur an dieser Regression. Eine plumpe Ablehnung männlicher Prinzipien, die in kriegerischen Auseinandersetzungen zum Tragen kamen, relativierte sich schon in Afghanistan. Dass es vor allem Männer sind, die eine körperliche Einheit mit ihrem Land bilden und territoriale Angriffe als Körperverletzungen wahrnehmen, kann man zunächst als Faktum zur Kenntnis nehmen. Die Psyche von Männern beschäftigt sich mit mehr mit dem Außenraum, weil sich das Berührendste des Menschen, Fortpflanzung und Sexualität, für sie im Außenraum abspielt. Wachstumsprozeße sind für den erwachsenen Mann vor allem dort realisierbar. Der Außenraum ist aber nie ein safe space, deshalb lebt der Mann in einer grundsätzlichen Unsicherheit und Verteidigungsbereitschaft. Man sieht dies täglich an den irrationalen Verhaltensweisen im Straßenverkehr.  

Sebastian Junger hat von Männern berichtet, die auch nach einer schweren Verletztung so schnell wie möglich zurück nach Afghanistan wollen, zu den Kameraden in den Kampf: Ohne den Kollektivkörper kommt der Krieger nicht mehr aus, wenn er einmal ein Teil von ihm war. Natürlich sind es diese Automatismen, die dem Pazifismus seine Berechtigung geben, weil der Krieg, ist er einmal Realität, schwer zu stoppen ist. Und doch wird gerade in Afghanistan auch klar, dass eine Seite anzusehen nicht genügt: Der Krieg wurde gegen den Terrorismus und ebenso für die Rechte der Frauen geführt, welche die Taliban in krasser Art nicht anerkennen. Niemand kommt zum Glück auf die Idee, den Frauen zu sagen, sie sollten sich selbst drum kümmern. 

Es hat allerdings auch niemand protestiert, als Wolodimir Selenskij verfügte, dass Jungen und Männer zwischen 16 und 60 das Land nicht verlassen dürfen. Die New York Times hat im Podcast unter anderen einen jungen ukrainischen Homosexuellen zur Sprache kommen lassen, dem alles durchschnittlich männliche fremd ist. 2014 war er von der Krim nach Kiew geflohen, weil er sonst ins russische Militär hätte eintreten müssen. Nun wurde er an der polnischen Grenze als Verräter beschimpft und zurück geschickt. Wo waren die Pazifisten eigentlich an dem Tag? Wenn der Pazifismus eine politische Bewegung ist, dann müsste sie doch über Theoretiker verfügen, die sich mit der Eskalation des Krieges genauestens auskennen und immer dann intervenieren, wenn ein nächster Schritt in die Gewaltspirale gegangen wird. Nur Männer zu rekrutieren gehörte gewiss dazu. 

Kein geringerer als George Orwell hat übrigens schon 1945 bemerkt, dass es sich bei Pazifisten um Menschenfreunde handelt, die nicht möchten, dass welche getötet werden und sich weigern, darüber noch weiter nachzudenken. Es gebe dazu noch eine Minderheit intellektueller Pazifisten, deren uneingestandenes Motiv der Hass auf die westliche Demokratie und die Bewunderung des Totalitarismus zu sein scheine. Pazifistische Propaganda laufe normalerweise auf die Aussage hinaus, die eine Seite sei genauso schlimm wie die andere, doch schaue man sich die Schriften jüngerer pazifistischer Intellektueller genauer an, so erkenne man, dass darin keineswegs unparteiische Missbilligung zum Ausdruck komme. Man muss wissen, dass Orwell seine Einsichten als Frewilliger im spanischen Bürgerkrieg gewann, und vom Weg in den Kampf auch berichtete, wie ihm das Herz höher schlug, als er die Kanonen auf den Wagen sah. Sie alle seien dem verderblichen Gefühl erlegen, dass der Krieg eben doch prächtig sei. Er wusste, wovon er redete. 

Das alles ist jedoch lange her. Wenn die Ukrainerinnen diesen Krieg gewinnen, wie es Timothy Snyder zurecht erwartet, dann gewinnen sie ihn, weil sie so nicht mehr sind. Abstrakt gesprochen wird es daran liegen, dass der russische Präsident einen Krieg gegen die Zukunft führt, eine zum scheitern verurteilte Idee, die sich auch militärisch abbildet: Die Ukrainer gewinnen dann, weil sie nicht mit Vergnügen in Reih und Glied zu einer Musik marschieren, sondern weil sie eine dezentrale Kommandostruktur haben. Wo früher Befehl von oben und Disziplin von unten war, ist heute Kreativität. Ohne detailliert festgelegten Befehl brettern Ukrainer auf Ebikes zu zweit durch den Wald, mit der Panzerfaust auf der Schulter. Aus dem Versteck greifen sie orientierungslose Trecks an, in denen alkoholisierte junge Männer sitzen, die nicht wissen, wozu gut sein soll, was sie tun. Die Ukrainer bilden keine weitere Armee unter Drogen ohne Welterfahrung und umso mehr Todessehnsucht. Männer und Frauen erklären in Videos, warum sie Angst haben und dennoch kämpfen: Damit die toxische Vergangenheit endlich aufhört. Auch Kertész hoffte im KZ jeden Tag, dass die Bomber kämen, was sie zum Glück irgendwann taten.    

Der Pazifismus ist aller Ehren wert, aber es wurde ihm nie die gebührende Ehre zuteil. Die Ehre etwa, schon 2014 und lange davor alles zu diskutieren, was den Krieg verhindert. Wirklich alles. Eine größere Niederlage als die vor unseren Augen ist für den Pazifismus nicht denkbar. Dem Präsidenten, der von seinem großen Moment träumt, wie Stockhausen vom größten Kunstwerk, wurde einfach nur freie Hand gelassen. Wenn die Ukrainer den Krieg verlieren sollten, dann weil Krieg ist und niemand hingeht, um ihnen zu helfen, den Krieg zu beenden. Egal wie viele Menschen noch in Keller gesperrt werden, wie Jorge Semprun einst in einen Viehwaggon. Egal wie viele Frauen mit nur mit einem Pelzmantel bekleidet und erschossen in Hinterzimmern besetzer Dörfer gefunden werden. Dann bleibt das in der Welt. Deshalb würde ich den Wehrdienst heute nicht mehr verweigern, und schon gar nicht würde ich mich ihm mit einer Lüge entziehen. Lieber läge ich bewaffnet hinter einem Sandsack und trüge zum Kampf um die Zukunft bei, gegen die Grausamkeit. Dass ich es könnte, weiß ich jetzt. Denn so kann man nicht weitermachen.